8. Januar 2011

Phänomen: Fußball / veröffentl. in B. Hellinger: Lebenshilfen aktuell S.19/20 u.d. Titel: Der Friede

Es spielt Deutschland gegen England, das Achtelfinale der Weltmeisterschaft 2010. Ich sitze vor dem Fernseher, es steht 2 : 1 für „uns“. Spannung baut sich auf, die Hände schwitzen, Herzschlag ist hörbar, Puls erhöht und der Atem angehalten. Da überkommt mich der Gedanke, was passiert hier mit mir. Ich sitze doch nur vor dem Fernseher, im fernen Südafrika laufen 22 Mann dem Ball nach und ein Schiedsrichter plus zwei Linienrichter regeln das Geschehen. Es geht um alles, um meinen Stamm, die Gruppe, der ich angehöre, mein Land, Deutschland, um das Überleben der „Sippe“. Die körperlichen  Reaktionen deuten auf Kampf hin. Die andere Gruppe, das andere Land  wird bekämpft, muss besiegt werden. Nur einer „überlebt“, kommt weiter. Woher kommen die Reaktionen des Körpers? Erinnert sich hier der Körper an die frühgeschichtlichen Auseinandersetzungen der Stämme, bei denen es logischerweise immer um Leben und Tod ging. Bert Hellinger`s Ansatz hilft mir weiter. Er hat rausgefunden, dass jeder seiner Gruppe mit gutem Gewissen anhängt und diese infolgedessen verteidigt. Dadurch verdient er sich das Recht auf Zugehörigkeit und gewinnt an Ehre. Bei mir reagiert der Körper eindeutig für die Gruppe Deutschland und ich empfinde weder Trauer noch tiefen Schmerz, wenn England ausscheidet. Im Bannkreis des guten Gewissens bin ich mit meiner Sippe verbunden und mit den anderen, hier England im Konflikt bis dahin, sie  „fußballerisch“ zu schlagen bzw. zu vernichten. Meines Erachtens erleben viele Männer alte, tief sitzende Kampfesmuster, der Körper weiß es noch, auch wenn so mancher Intellekt glaubt, das Ganze schon abgelegt zu haben. Wer diesen Vernichtungswillen nicht spürt, der leidet unter einer versteckten Aggression und bemerkt nicht, das seine Friedlichkeit vielleicht nur gespielt ist. Wie komme ich nun aus der Spannung und Unruhe raus – außer ich will unbedingt drin bleiben und meinem Herzen schaden – nur mit einem anderen, schlechten Gewissen, indem ich dem ganzen Prozess und meinem Land untreu werde. Dies war früher stammesgeschichtlich mit Ausschluss verbunden, dem Verlust der Zugehörigkeit – der Todesstrafe gleich. Dann kommt eine Einsicht. Ich stelle mir vor, wie ein englischer Fan gebannt und eifrig und das mit gutem Gewissen für sein Land vor dem Fernseher sitzt. Wie sind wohl seine Empfindungen und die aller anderen Fans auf der Welt mit dieser Neigung zum Fußball? Wohl mit ein paar charakterlichen Unterschieden gleich, keiner ist besser oder schlechter, wenn er mit seiner Mannschaft mitfiebert. Nun beginne ich, die Männer beider Mannschaften zu beobachten, wie sie kämpfen, alles geben und sich einsetzen, schaue auf alle gleichermaßen. Das Motiv eint sie. Wer gewinnt oder verliert, bekommt weniger Bedeutung, Abstand baut sich auf, mir passiert ja nichts vor dem  Fernseher, weil unbeteiligt, ich überschreite gerade meine bisherigen Grenzen. Die körperlichen Empfindungen lassen nach, Hände trocknen, Herzschlag normal, Entspannung breitet sich aus. Ich brauche niemanden bekämpfen, vernichten und auch nicht flüchten. Seit langer Zeit gilt das Alte, sich immer Wiederholende, dass Stämme, Sippen, Dörfer, Religionen, Länder aus verschiedenen Gründen aufeinander losgingen und hauptsächlich Männer versuchten, mit allen Mitteln ihrer Gruppe zum Sieg und damit zum Überleben zu verhelfen. Es ist ein altes Spiel, beim Fußball kultiviert und verfeinert, aber es geht um Angriff, Abwehr, Verteidigung, um alle Rituale des Überlebenskampfes und des Vernichtungswillens. Viele Männer  lieben es und manche Frauen auch.